Das Leben, der Zufall, die Sterne und 6,5 Jahre Reisen

Philosophischer Plausch zwischen zwei Gleichgesinnten über das Unterwegs-Sein in Jugendherbergen anlässlich der 2300. Übernachtung

Von Barbara Einwag

In Jugendherbergen hat er schon überall übernachtet: In der Besenkammer, der Küche, auf einer Tischtennisplatte, im Billardraum, in der Rezeption, auf dem Boden bei einem anderen Gast oder im Winter auf dem ungeheizten Speicher. Er war in deutschen Landen und fast überall auf der Welt. Den „Grundstock“ für sein aktuelles „Jubiläum“, die 2300. Übernachtung, hat er in Italien gelegt, dem Land, wo vor 46 Jahren seine Reise zufällig begann.

Pro Jahr kommt Walter Tiroke, der im Jahr 2018 11.000 km mit dem Fahrrad fuhr, im Schnitt auf 50 Übernachtungen und 25 neue Jugendherbergen. Bereits im März möchte er erneut nach Weimar kommen und von dort mit dem Rad nach Sachsen fahren, wo er in Bad Lausick eine Kur antritt.

Zahlreiche Artikel wurden über Walter Tirokes besondere Wegmarken auf seinen Reisen geschrieben. Diese hat er gesammelt. In den DJH-Zeitschriften „Extratour“ und „Mittendrin“ wurde schon sechsmal über ihn berichtet. Ebenso im Münchner Merkur, der Zürichsee-Zeitung oder in „The Hindu“. Er war am Äquator, machte Flugübungen in Ecuador, reiste auf die Galapagos-Inseln, nach Simbabwe, Kambodscha, Peru und China. Ein Reiseziel ist und bleibt dabei auf dem ersten Platz.

Bei seinen 515 Jugendherbergen in Deutschland hat er bislang nur die der alten Bundesrepublik Deutschland gezählt, 529 sind es gesamtdeutsch, er hat nachgerechnet. Nun sitzt ist er erstmals in Weimar, einem besonderen Ort für Jungfrauen. Bei Barbara Einwag, die 12 Jahre jünger ist als er und 216 Jahre jünger als Goethe.

Herr Tiroke, seit wann Sind Sie Mitglied im DJH?

Seit Sommer 1973, also 46 Jahre.

Wie und wo wurden Sie Mitglied und wohin ging Ihre erste Fahrt?

Es geschah, wie so vieles in meinem Leben, durch Zufall. Ein Freund hatte ein Stipendium in Italien und er überzeugte mich deshalb, die DJH-Mitgliedschaft zu erwerben. Die erste Übernachtung war die am 15.08.1973 in Lecco / Italien.

Da waren sie 19, knapp 20 Jahre alt!

Ja, denn ich habe ja, wie Sie selbst auch, am 15.09. Geburtstag!

Haben Sie diese Jugendherberge noch einmal besucht?

Ja, vor anderthalb Jahren. Es ist heute keine Jugendherberge mehr, sondern ein Altenheim für Behinderte.

Sie verbringen in Weimar Ihre 2300. Übernachtung, das sind knapp 6,5 Jahre Ihres Lebens, das Sie in Jugendherbergen verbracht haben, wenn man das so rechnen kann!

Ja, vom Donnerstag 31.01. auf den Freitag 1. Februar 2019 ist meine 2300. Übernachtung, hier in der Jugendherberge „Maxim Gorki“ in Weimar. An Ihrer Art, das so schnell auszurechnen, war es für mich nicht schwer, Ihr Sternzeichen zu erraten.

Was war Ihr schönstes Erlebnis?

Das ist eine Frage, mit der ich gar nicht gerechnet habe. Es gab ein paar ganz besondere. Begegnungen mit Menschen wie etwa die mit einer jungen Frau. Sie stand auf einmal in der Jugendherberge am Tisch: „Wer möchte mein Brötchen haben?“, dann traf ich sie am Bahnhof wieder, dachte, obwohl der Zug schon am Abfahren war, jetzt musst du sie nach ihrer Adresse fragen. Ich bekam die Adresse und glücklicherweise wartete auch der Zug. Wir kennen uns nun schon 36 Jahre lang.

Ein anderes Erlebnis war in Franken, als ich an eine Jugendherberge kam, vor deren Kiosk eine lange Schlange wartete. Als ich dran kam, sagte der Zivi, es sei voll. Als ich aber erwähnte, dass ich 180km mit dem Fahrrad gefahren sei, ließ er umgehend die Rollos runter und legte mir eine Matratze zum Übernachten auf den Boden des Aufenthaltsraumes. Gefrühstückt habe ich dann mit dem Herbergsvater, ein bis heute unvergessliches Erlebnis.

Aber auch Indien war eindrucksvoll, wo sich immer wieder eine Übernachtungsmöglichkeit in einer vollen Jugendherberge fand und sei es auf dem Billardtisch. Das sind die besonderen Erlebnisse. Ein nettes Gespräch ziehe ich dabei dem luxuriösen Einzelzimmer vor.

 Wie viele Jugendherbergen haben Sie in den 46 Jahren bereist?

1139 verschiedene Jugendherbergen weltweit in 50 Ländern, davon 529 in ganz Deutschland. Bislang hatte ich nur die in der BRD gezählt.

Sie kennen sich mit Sternzeichen aus. Sie sind Sternzeichen Jungfrau und im chinesischen Horoskop Schlange. Und, wie Sie bereits am Telefon herausgefunden haben, das verbindet erstaunlicherweise (zufällig?!) auch uns beide. Wussten Sie, dass das auch für Goethe zutrifft?

Dass auch Goethe Jungfrau und Schlange war, weiß ich erst durch Sie. Nun sehe ich ihn mit anderen Augen.

Jungfrau ist das Sternzeichen, das am wenigsten gern reist, weil es alles vorweg planen will. Aber durch Reisen lernt man, offen zu sein. Man lernt, dass man etwas bekommt, wenn man es wirklich braucht, nicht wenn man es sich einbildet!

Das ist ja philosophisch! Und die Offenheit, der Zufall kommt in Ihren Erzählungen immer wieder vor. Welche Rolle spielt er?

Jungfrauen planen gern, das hatte ich ja schon gesagt. Aber alles, was wichtig ist, entsteht zufällig. Es ist, als ob jemand anders für mich lenkt. So habe ich meine Lebensgefährtin zufällig kennen gelernt und es gilt auch für Jugendherbergen, einfach alles. Aber man muss sich darauf einlassen. Und loslassen ist die große Aufgabe unseres Sternzeichens.

Wussten Sie, dass die Birke der „Baum des Loslassens“ ist?

Nein. Aber es verwundert mich nicht! Auf meinem Grundstück gibt es zahlreiche Birken. Und ja, ich umarme auch Bäume! (Lacht)

Ich sehe schon, von Ihnen kann ich ja noch einiges lernen!

Es muss ja einen Grund gehabt haben, warum Sie nach Weimar gekommen sind! (Lacht auch). Ihr Aszendent ist Skorpion. In Weimar stehen „Jungfrau“ und „Skorpion“ nebeneinander auf einem Podest und man hat sie hier zu Fürsten erklärt (Goethe und Schiller).

Das ist ja interessant. Der Skorpion hilft der dienenden Jungfrau in Richtung Spiritualität zu schauen. Der Aszendent gibt dabei die Richtung vor, in die man sich bewegen soll, während das eigentliche Sternzeichen die Ausgangslage vorgibt.

Das ist ein sehr schönes Bild!

Interessant. Ich bin ja Buddhist. Gelegentlich fahre ich auch mal per Anhalter, weil es viel über das Leben lehrt. Es ist dabei sehr wichtig, auf seine eigenen Gedanken zu achten. Wenn ich mit mir im Einklang bin, fahren keine drei Autos mehr an mir vorbei.

Beispielsweise wartete ich einmal so lange, bis ich mir dachte, wenn mich nicht bald jemand mitnimmt, muss ich hier verhungern. Kurz darauf brüllte mich jemand aus einem Auto an, ob ich nicht endlich einsteigen wolle oder lieber hier verhungern wollte! Ich erkannte, dass man sehr auf seine Gedanken achten muss, denn auch negative Gedanken könnten ihre Entsprechung in der Wirklichkeit finden.

Was ist Ihr Lieblingsreiseziel?

Der deutschsprachige Raum, dazu gehören für mich auch die Niederlande und Skandinavien. Das ist für mich der interessanteste Teil der Erde. In Deutschland ist sowohl die Kultur als auch die Natur so interessant. Die schroffen Alpen, die lieblichen Mittelgebirge, das einzigartige Land zwischen den Meeren, die so gegensätzlich sind: die Nord- und Ostsee. Das alles in einem einzigen Land! Und dann allein in Bayern drei verschiedene Kulturen, das Altbayrische, das Fränkische und das Schwäbische…total unterschiedliche Kulturen! Ganz unterschiedliche Haustypen. Woanders ist dagegen oft einheitlicher Siedlungsbrei, den man irgendwann nicht mehr sehen kann, wie etwa in Peru.

Sie sind ein Zahlenmensch, besser gesagt: wir beide! Das haben Sie gleich bemerkt, als ich Ihre 2300 Übernachtungen umgerechnet habe.

Ja, deshalb habe ich Sie auch gleich gefragt, welches Sternzeichen Sie sind (was wohl sonst Ihre Frage ist!).

Und mir fiel auf, dass Ihre 1000. Übernachtung am 22.01.2000 in „THE HINDU“ erwähnt wurde.

Das ist mir noch gar nicht aufgefallen! Die Jugendherberge war eigentlich voll. Erst als ich erzählt habe, dass es die 1000. Übernachtung sein würde, bot mir der Herbergsvater ein besonderes Zimmer im Dachboden des Hauses an. So klappte es schließlich doch! Und es war zudem die erste Jugendherberge, die je in Indien eröffnet wurde!

Herr Tiroke, was haben Sie in Weimar denn zuerst angesehen?

Ich war auf dem Historischen Friedhof, in Goethes Wohnhaus und der Anna Amalia Bibliothek. Auf Ihre Empfehlung hin gehe ich heute bei dem schönen Wetter in den Ilmpark und morgen in Schillers Wohnhaus.

Heute Abend steht die Generalprobe von Wilhelm Tell auf dem Programm des Deutschen Nationaltheaters auf dem Programm, zu der ich Sie sehr gern einladen möchte. Nehmen Sie an?

Oh, natürlich, sehr gern!

 

Das Interview führte Barbara Einwag.

Hintergrundinfos:

Walter Tiroke

* 15.09.1953               in München (wenn die Welt einen besonderen Geruch hat: von Obst und Früchten, die am Boden liegen…);

Arbeit als Beamter. („Als Beamter arbeitet man ja nicht!“).

1973                            mit knapp 20 Jahren: Erwerb der DJH-Mitgliedschaft und erste Jugendherbergsreise nach Italien (wie Goethe)

2019                            2300. Übernachtung in der Jugendherberge „Maxim Gorki“ Weimar, wo er das erste Mal weilt.

 

Barbara Einwag

*15.09.1965                in Bamberg

Magisterstudium (Kunstpädagogik und –didaktik, Kommunikationswissenschaft und Denkmalpflege) in Bamberg und Dresden

Erstmalig DJH-Mitglied in den 80er Jahren zu Studienzeiten, wo es mit dem Interrail-Ticket durch ganz Europa ging. Granada und die Alhambra sowie Barcelona mit den Ramblas waren erste Stationen.

Seit 2006 als Marketingleiterin beim DJH-Landesverband Sachsen bzw. Thüringen e.V. tätig